Porträt einer Dame

Isabel Archer ähnelt einer modernen Figur, gefangen in einem älteren Rahmen. Auch nach ihrem Umzug nach Europa möchte die aufgeweckte junge Amerikanerin die Möglichkeit der freien Wahl, die sich aus einer beträchtlichen Rente ergibt, behalten, weshalb sie ein instinktives Verlangen nach „Sehen, Ausprobieren, Wissen“ zeigt. Dies weicht sie von den Konventionen des späten 19. Jahrhunderts ab und macht sie umso unwiderstehlicher in den Augen derjenigen, die die Entschlossenheit der alleinstehenden Dame, die Tradition abzulehnen, als einen kapitalen Haken betrachten. Die gefühlvolle, großzügige, aber auch naive Heldin schwankt zwischen Verehrern, die von einem reichen Lord verkörpert werden, einem lächerlichen Mann, der sie von jenseits des Ozeans verfolgt, und sogar einem schwerkranken Cousin. Um des inneren Wachstums willen weist sie sie alle höflich zurück – und ist gleichzeitig so heftig in ihrer Direktheit, dass sie von der Gegenseite die gleichen ehrlichen Absichten annimmt, was letztlich zu einem fatalen Irrtum führt.

Henry James‘ Meisterroman – auch bekannt aus der Verfilmung von Jane Campion mit Nicole Kidman und John Malkovich in den Hauptrollen – erzählt die Geschichte der tief im Inneren verborgenen Gemeinheit und der Narben für das Leben. Das Werk, das vor dem Hintergrund der venezianischen Lagune entstand, die die gefallene Alte Welt symbolisiert, beschäftigte sich jedoch nicht mit den Frustrationen scheinbar unschuldiger Amerikaner ohne richtige Vergangenheit, wie sie von den Landsleuten des Autors, Hawthorne oder Twain, dargestellt werden. Die erstaunliche Kraft der Prosa beruht auf der gefühlten Subtilität, mit der der Magier der „zweischneidigen Ironie“ die verborgene Landschaft menschlicher Motivationen beobachtet. Im Spiel von Licht und Schatten, Eindrücken und Andeutungen überschreitet James die Grenzen eines historischen psychologischen Romans derart, dass das Ergebnis den Leser auch hundert Jahre nach dem Tod des Autors in seinen Bann zieht.